Speyer. Im Rahmen der Reihe „Europäische Reden - Reden über Europa“ hielt Prof. Dr. mult. Roland Minnerath, Erzbischof von Dijon in Frankreich, am 21. November im Speyerer Dom einen Vortrag zum Thema „Hat Europa eine Zukunft?“ Anlass für seine Rede war die Jahrestagung der „Europäischen Stiftung Kaiserdom zu Speyer“.
Erzbischof Minnerath sieht die Europäische Union in einer Krise, die in der abnehmen Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger liegt. „Die Europäische Union ist nicht genügend von den Menschen in Europa getragen.“ In vielen Mitgliedsländern seien Kräfte am Werk, die auf eine Rückkehr zum Nationalstaat hinarbeiten, „als wäre Europa eine Bedrohung und der Nationalstaat die Lösung aller Probleme in der heutigen Welt“. Minnerath erinnerte an das Gemeinwohl und die zentrale Bedeutung der Würde des Menschen als Person: „Wenn der Mensch mit seiner Personenwürde nicht mehr als der unendliche Horizont, als Mitte und Ziel des gesellschaftlichen Lebens betrachtet würde, dann wäre Europa ein Projekt ohne Zukunft.“ Im Begriff der Würde komme die Vorstellung zum Ausdruck, dass der Mensch ein Suchender ist: „Seine Freiheit besteht darin, dass er sich dem Geheimnis seines Daseins öffnen kann.“ Das Leben sei eine unendliche Suche nach Sinn. „Um Europa weiter aufzubauen, brauchen wir daher den Horizont der Transzendenz“, so Minnerath.
Aus christlicher Sicht sei der Mensch vor allem Teil der universellen Einheit der Menschheit: „Die Menschen sind von Geburt an alle mit der gleichen Würde ausgestattet, weil sie Glieder des Menschengeschlechts und nicht dieser oder jener Nation sind.“ Dieser Grundsatz verurteile jede Diskriminierung aus Gründen der nationalen Zugehörigkeit, der Ethnie, der Rasse, der Religion oder der Kultur. „Es ist dringend geboten, die jungen Europäer so zu erziehen, dass sie ihre Unterschiede achten und die gleiche Würde jedes einzelnen, aber auch jeder Nation anerkennen.“ Man könne nur wünschen, dass „Europa auf keinen Fall so etwas wie eine auf ihre egoistischen Interessen fixierte kontinentale Festung Europa wird“. Wenn Europa den Mythos von der absoluten nationalen Souveränität aufgebe, könne es „der Welt, die vielerorts noch oder schon wieder in der aussichtslosen Konfrontation der Nationalismen gefangen ist, auch als Orientierungspunkt dienen“.
Die Perspektive der Transzendenz schütze den Menschen vor einer Verabsolutierung der Güter: „Wir wissen, wohin die Ideologien geführt haben, die dem Menschen das Paradies auf Erden versprochen hatten. Wer an eine kommende Vollkommenheit glaubt, ist besser imstande, sein Leben zu ordnen.“ Würde die Kirche nicht mehr die kommende Heimat verkünden, so würde sie „nicht nur ihren Auftrag nicht erfüllen, sie würde auch die Menschen der unendlichen Perspektive berauben, die der Geschichte einen Sinn verspricht“. So dürfe die Liebe zur eigenen Heimat auch nie in Geringschätzung anderer Heimatgefühle umschlagen.
Subsidiaritätsprinzip als Schlüssel auf dem Weg zu einem europäischen Bundesstaat
Einen Schwerpunkt legte Erzbischof Minnerath auf das Subsidiaritätsprinzip. Es empfehle, den unteren Organisationsebenen nicht die Funktionen zu entziehen, die sie selber erfüllen können, und die oberen Entscheidungsinstanzen nur dann ergänzend intervenieren zu lassen, wenn die unteren Instanzen nicht mehr in der Lage sind, ihre Verantwortlichkeiten zu erfüllen. „Dieses Prinzip ist der Inbegriff demokratischer Partizipation.“ Auf die Europäische Union angewandt, ist es aus Minneraths Sicht „ein Garant der besonderen Eigenart der Nationen und nicht eine Bedrohung für deren Existenz.“ Europa brauche eine neue „Wertschätzung für das Ziel der politischen Einigung Europas sowie ein Europa-Gefühl, das die Nationen nicht verwirft, sondern hineinnimmt in ein größeres Ganzes und sie nach dem Subsidiaritätsprinzip als dessen Bausteine versteht.“ Er rief die Politik und die Kirche dazu auf, für die Überzeugung zu werben: „Ohne den Schutz einer den europäischen Nationalstaaten übergeordneten Europäischen Union ist jeder europäische Nationalstaat in Zukunft nicht mehr im Stande, seine Eigenart als Nation zu behalten und seine Interessen in der internationalen Politik zu wahren.“ Nach Überzeugung von Erzbischof Minnerath biete ein europäischer Bundesstaat die Chance, die volle Entfaltung des Subsidiaritätsprinzips ermöglichen.
„Menschenbild, das ganz Europa gemeinsam war, ist zerstört“
Minnerath stellte fest, dass sich die anfänglich begeisterte Zustimmung der Kirche zum Aufbau Europas in vielen Teilen der Kirche in Fragezeichen verwandelt habe. In anthropologischen und ethischen Fragen sei eine tiefe Kluft entstanden: „Das Menschenbild, das ganz Europa gemeinsam war, ist zerstört.“ Der Schutz des Lebens von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod, die Ehe als lebenslängliche Verbindung von Mann und Frau sowie als Ort der Weitergabe menschlichen Lebens, Fragen von Gender, Lebensende und Euthanasie seien „Themen, in denen die Mehrheit des europäischen Parlaments sowie der nationalen Parlamente und die überlieferte christliche Ethik nun schon seit Jahren auseinander gehen.“ Sollte Europa sich völlig vom jüdisch-christlichen Menschenbild lösen, so wäre Europa „etwas anderes als das, was wir ererbt haben und weitergeben möchten.“ Für Erzbischof Minnerath steht fest: „Die Christen in Europa haben den Auftrag, nicht nur an die christlichen Wurzeln des Kontinents zu erinnern, sondern sich fest an die Quelle zu halten, aus der alle Erneuerung hervorgeht. Die Quelle ist die christliche Botschaft in ihrer dauernden Gültigkeit.“ Aus dieser Quelle entspringe die Überzeugung, dass „wir durch die Zustimmung zu Europa ein Stück weiter kommen können auf dem Weg, der zu einer größeren Einheit der Menschheit führt.“
Prof. Dr. Peter Frankenberg, Vorstandsvorsitzender der „Europäischen Stiftung Kaiserdom zu Speyer“, dankte Erzbischof Minnerath für seinen Vortrag, der die Zuhörer „zu den Grundlagen der europäischen Identität“ geführt und in der Überzeugung bestärkt habe: „Europa ist nicht am Ende, sondern kann vor einem neuen Anfang stehen.“ Bischof Dr. Karl-Heinz Wiesemann schloss mit einem Gebet. Musikalisch eingerahmt wurde die Veranstaltungen durch Orgelwerke von Johannes Brahms und Norman Cocker, dargeboten von Domorganist Markus Eichenlaub.
Text: is / Foto: Klaus Landry